Drohende Entführung vietnamesischer Frau: Die Verfolgte
Vor sechs Jahren entführte der vietnamesische Geheimdienst in Berlin einen abtrünnigen Funktionär. Nun droht einer Frau ein ähnliches Schicksal.

Published : 2 years ago by Konrad Litschko, Marina Mai in General
Es war das erste Mal seit dem Kalten Krieg, dass eine Entführung durch einen ausländischen Geheimdienst auf deutschem Boden öffentlich bekannt wurde: Im Sommer 2017 entführte der vietnamesische Geheimdienst am helllichten Tag mitten in Berlin einen abtrünnigen vietnamesischen Wirtschaftsfunktionär, Trinh Xuan Thanh. In einer filmreifen Aktion wurde er bis nach Hanoi gebracht. Dort sitzt er nun eine lebenslange Haftstrafe ab.
Der 54-Jährigen kam bis vor Kurzem in Vietnam eine wichtige Rolle zu: Sie brachte Waren ins Land, die der südostasiatische Staat eigentlich nicht bekommen dürfte, hauptsächlich Rüstungsgüter. Die Außenhandelskauffrau, die neben ihrer Muttersprache Vietnamesisch fließend Englisch, Russisch und Japanisch sowie ein wenig Chinesisch spricht, war bis zu ihrer Flucht aus Vietnam Vorstandsvorsitzende der Progressive International Corporation AIC, eines vietnamesischen Unternehmens, das im Außenhandel, in der Vermittlung vietnamesischer Arbeitskräfte ins Ausland, aber auch in Bauprojekten im Inland tätig ist.
Im Mai 2022 aber gab es dann Haftbefehle gegen Nguyễn Thị Thanh Nhàn, mehrere Mitarbeiter*innen ihres Unternehmens AIC sowie lokale Gesundheitspolitiker*innen. Es geht um Betrug und Korruption bei den Ausschreibungen für den Bau eines Krankenhauses. Nhàn und sieben ihrer Mitarbeiter*innen schienen vorab informiert worden zu sein und waren da bereits ins Ausland geflohen. Ihr Hauptbuchhalter Do Van Son wurde nun im Juni 2023 von seinem Exilland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, nach Vietnam ausgeliefert. Grundlage war eine Fahndungsausschreibung der vietnamesischen Regierung via Interpol, eine „Red Notice“, wie die Botschaft der Emirate der taz bestätigte. Nun sitzt der Mann in Vietnam in Haft.
Von einem weiteren geflohenen Mitarbeiter ist bekannt, dass sich Vietnam erfolglos bei den USA, wo er lebt, um eine Auslieferung bemüht hat. Das Schicksal der anderen fünf Geflohenen ist nicht bekannt. Vietnam aber hat die Gesuchten im Januar in Abwesenheit zu langjährigen Haftstrafen verurteilen lassen. Nguyễn Thị Thanh Nhàn, die AIC-Chefin, wurde zu 30 Jahren wegen Betrugs und Korruption in Ausschreibungsverfahren verurteilt. Mindestens ein weiteres Verfahren gegen sie ist noch offen. Ihre nicht unerheblichen Vermögenswerte, darunter eine Villa an einem See in Hanoi, wurden eingezogen.
Nun sucht Vietnam die geflohene Nguyễn Thị Thanh Nhàn mit Hochdruck. „Jede Person hat das Recht, die gesuchte Person festzunehmen und sie sofort zur nächsten Polizeistation, Staatsanwaltschaft oder Behörde zu bringen“, zitieren seit Mai 2022 vietnamesische Medien immer wieder aus dem Fahndungsbescheid. Es folgen Daten wie ihre Passnummer und Erkennungszeichen wie Narben am Körper. In einem aktuellen Medienbericht heißt es, Nhàn entziehe sich mit ihrer Flucht ihrer persönlichen Verantwortung – „daher muss streng gehandelt werden, um Abschreckung und allgemeine Prävention zu gewährleisten“. Mit ähnlichen Aufrufen wurde 2016 und 2017 der gesuchte und später entführte Trinh Xuan Thanh für vogelfrei erklärt. In beiden Fällen wussten die vietnamesischen Behörden längst, dass die Gesuchten im Ausland waren.
Nach taz-Informationen ist Nguyễn Thị Thanh Nhàn seit einigen Monaten in Deutschland und lebt hier in einer Großstadt. Zuvor soll sie nach Japan und dann nach London geflüchtet sein, wo ihre Tochter leben soll. Auch der vietnamesische Geheimdienst soll von ihrem Aufenthalt in Deutschland inzwischen wissen. Anfragen dazu beantwortet die vietnamesische Botschaft nicht. Nguyễn Thị Thanh Nhàn selbst ist nicht zu erreichen.
Nicht ausgeschlossen ist aber, dass Vietnam noch einmal eine Entführung wagt – trotz des diplomatischen Desasters nach dem Fall Trinh Xuan Thanh. Dafür spricht die Vehemenz der Suche nach der Frau, die derzeit die meistgesuchte Vietnamesin ist. Dafür spricht auch, dass der vietnamesische Geheimdienst in jüngerer Zeit zwei andere vietnamesische Staatsbürger entführte, aus Thailand. 2019 traf es den Journalisten Trong Duy Nhat, der für einen US-Sender von Thailand aus über Vietnam berichtete, und in diesem Jahr den Exilblogger Thai Van Duong. Beide sind inzwischen in Vietnam inhaftiert.
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